Frauen und Missbrauch - Heilung unserer Urwunde

 

von Amana Virani

 

Es ist ein oft belächeltes Phänomen, dass in fast jeder Therapie oder Selbsterfahrungsgruppe, egal welcher Form, nahezu jede Frau irgendwann die Erinnerung an einen sexuellen Missbrauch ausgräbt, der dann als die Wurzel allen Übels ihrer Leiden besungen und bestaunt wird.

Was steckt da dahinter? Sind wirklich so viele Frauen als Kinder sexuell missbraucht worden oder gibt es eine andere, naheliegendere Erklärung?

Ich befasse mich mit dieser Thematik seit über zehn Jahren. Damals, als alles anfing, war ich gerade mal siebzehn Jahre alt und machte meine erste Selbsterfahrungsgruppe. Damals war ich diejenige, der die Therapeutin die Vermutung nahe legte, ich wäre irgendwann einmal missbraucht worden, vielleicht sogar sexuell. Diese Vermutung war nicht einfach aus der Luft gegriffen und ich spürte durchaus eine Resonanz zu dem was sie sagte. In mir, irgendwo, gab es einen Schmerz, eine Scham, ein Leid, das durch einen Missbrauch sehr gut erklärt schien. Ich war geschockt und dankbar für ihre Feststellung: geschockt, weil ich keinen blassen Schimmer hatte wie oder durch wen mir dieser Missbrauch hätte wiederfahren sollen, dankbar, weil sie etwas in Worte gefasst hatte, das mich tatsächlich quälte, ein Phantom von einem Schmerz in mir.

Seit dem habe ich mit sehr vielen Frauen gesprochen. Frauen aus verschiedensten Kulturen und sozialen Hintergründen, Frauen verschiedenster Alters- und Berufsgruppen. Was ich feststellte, war dass bei Frauen, die einen bestimmten Entwicklungspunkt in sich erreicht hatten, eine bestimmte Thematik immer und immer wiederkehrte: Missbrauch, vielleicht auch sexuell - dieses Gefühl, dass etwas passiert ist, irgendwann, irgendwie. Und parallel der Konflikt: aber wer, aber wie? Und verständlicherweise der Wunsch nach Erinnerung, nach etwas Greifbarem, Gewissheit.

Bei manchen Frauen tauchten die Erinnerungen irgendwann auf. Sie hatten so lange in sich gebohrt und gegraben, waren immer tiefer in das Dunkel ihrer Erinnerungen vorgedrungen und schließlich mit Bildern wieder aufgetaucht.

Es waren dunkle Bilder, verschwommene Bilder - doch eindeutig Bilder die zu den Gefühlen passen und die ihre Vermutungen zu bestätigen scheinen.

Endlich! Leider fängt damit der innere Konflikt oft erst richtig an und die ersehnte Klärung bleibt meist aus. Der Zugang zu der Erinnerung stürzt die betroffenen Frauen häufig in ein tiefes Dilemma: einerseits bringt die ausgegrabene Erinnerung die langersehnte Bestätigung für ein altes Gefühl dass "irgendwas war", andererseits deckt sich die Erinnerung häufig nicht mit der tatsächlichen Lebensrealität dieser Frauen als Kinder. Die Behauptung, dass dieser oder jener Mensch das tatsächlich getan haben soll erweist sich, nüchtern betrachtet, nicht selten als sehr unwahrscheinlich.

Zu allem Überfluss sind die aufgetauchten Bilder meist dermaßen verschwommen und undeutlich, dass frau ihnen selbst kaum traut.

Der Therapeut, der frau in dem Glauben an die Wahrhaftigkeit der Erinnerungen meist nur allzu gern bekräftigt - bestätigt dies doch die Effizienz seiner Methode - ist da selten eine wirkliche Hilfe. Was nutzt es, wenn er eifrig nickend die Korrektheit bestätigt, wenn frau spürt, dass da etwas nicht ganz passt?

Die meisten Frauen gehen mit dieser Thematik einen Mittelweg. Irgendwo in sich akzeptieren sie die Realität der entsprechenden Missbrauchsthematik, nach außen leben und agieren sie weiterhin als gäbe es diese Realität nicht. Zu dünn ist das Eis ihrer Erinnerung, zu vage ihr Ursprung. Leider passiert dadurch selten wirkliche Heilung, da frau der inneren Realität eben gespalten gegenüber steht und keinen wirklichen Umgang damit hat. Intuitiv spüren viele Frauen, dass der Weg der äußeren Konfrontation – mit Familienangehörigen oder dem vermeintlichen Täter - hier wenig nützlich sein wird und am Kern der Sache vorbei geht.

Es ist noch nicht lange her, da kam ich in einem Gespräch mit einer Freundin darauf, dass es sich bei diesen Erinnerungen und Gefühlen vielleicht gar nicht immer um individuelle Missbrauchsgeschichten handeln muss. Etwas an der Art wie sie ihre Geschichte erzählte und daran wer sie ist, offenbarte mir die Möglichkeit einer anderen Erklärung: könnte es sein, dass viele dieser diffusen, wenig greifbaren Missbrauchsgeschichten einfach das Echo des einen großen Missbrauchs sind, des kollektiven, Jahrtausende alten?

Spüren wir als wache, reife Frauen in uns einfach einen Schmerz, der uns nicht individuell sondern kollektiv gehört?

Etwas in mir sagte ein großes, stilles "ja".

Missbrauch - ein Schmerz so alt wie die Menschheit

Der Missbrauch der Frau hat seinen Ursprung im Tierreich, im Schattenreich der Instinkte, vor der Bewusstwerdung des Menschen. Er begründet sich in einer einfachen Tatsache: Frau ist dem Mann im körperlichen Zweikampf selten gewachsen. Im Zweifelsfalle konnte Mann sich Frau gegenüber meist mit dem Faustrecht durchsetzen - und sie zwingen, seinen Wünschen Genüge zu tun. Die Misshandlung der Frau durch den Mann ist ihrem Wesen nach schlicht primitiv. Heute blicken wir Frauen auf mehrere tausend Jahre Geschichte der Unterdrückung, des Missbrauchs und der Gewalt zurück. Viele von uns heute in Europa sehen darin eben das: Geschichte. Aus und vorbei. Nach Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden von Unterdrückung, ist unser kleiner Teil der Weltbevölkerung an einem Punkt angelangt, wo die Gleichstellung der Geschlechter zumindest intellektuell gesehen eine Selbstverständlichkeit ist. Spätestens meine Generation, die jetzt noch unter Dreißigjährigen, sind bereits von Müttern aufgezogen worden, die sich selbst als emanzipiert begriffen und von Vätern, die diese Emanzipation zumindest pro Forma befürworteten.

Außerdem wird in unserer Gesellschaft heute auf der praktischen Ebene viel unternommen, um Missbrauch zu verhindern. Wir haben Frauenhäuser, Polizeinotruf und ein Gewaltschutzgesetz. Frauen sind per Gesetz vor Gewalt geschützt und auch ökonomisch von Männern zunehmend unabhängig. Frau muss Missbrauch heute nicht mehr hinnehmen.

Das Problem bleibt: wir haben einen intellektuellen Bewusstseinssprung vollzogen und hinken diesem Sprung emotional hinterher. Wir haben den Quantensprung der mentalen Ebene emotional nicht integriert. Könnte es sein, dass diese Lücke sich auf der emotionalen Ebene in der Missbrauchsthematik wiederspiegelt, die so viele von uns Frauen in sich entdecken? Spüren wir hier einen Schmerz, der nicht unser eigener ist? Hegen wir eine Wunde, die so alt ist, dass ihre Heilung nicht innerhalb einer oder zwei Generationen vollzogen werden kann?

Ich halte das für sehr wahrscheinlich: der Schmerz ist uns geblieben und gerade Frauen, die sich immer weiter von der Missbrauchsrealität entfernen, deren Bewusstsein sich auf andere Ebenen begeben möchte, werden mit den Relikten dieser anderen Zeit in der kollektiven Psyche der Frau konfrontiert.

Der kollektive weibliche Schmerzkörper

Eckhart Tolle spricht in diesem Zusammenhang von einem "kollektiven weiblichen Schmerzkörper". In seinem Buch "Jetzt" spricht Tolle über diesen Schmerzkörper als eine energetische Wesenheit, die sich verselbstständigt hat. Das Frauenbewusstsein an sich hat den Missbrauch internalisiert und sich so weit zu eigen gemacht, dass jede Frau einen Teil davon trägt. In den Tagen vor den Tagen oder im ersten Trimenon der Schwangerschaft spüren viele Frauen den Schmerzkörper besonders deutlich - meist ohne wirklich zu wissen, was sie spüren. So lange diese Wunde in uns im Verborgenen liegt, kann sie nicht heilen. Aus dem Unterbewusstsein bestimmt sie unser Verhalten und unseren Umgang mit uns selbst: wir sind längst zu Mittäterinnen im eigenen Missbrauch geworden. So geschieht es, dass junge Frauen sich ohne jeden Zwang durch die Wahl ihrer Kleidung und ihres Make-ups immer mehr zu Objekten stilisieren und eine Verfügbarkeit suggerieren, die stark an das Rotlichtmilieu erinnert. Und so geschieht es, dass viele Frauen sich immer wieder mit Männern einlassen, die nicht gut für sie sind, die sie benutzen und demütigen. Es entspricht dem unterbewussten, kollektiven Erfahrungsschatz der Frauen seit Tausenden von Jahren.

Heilung unserer Urwunde

Heilung bedeutet Ganzwerdung. So kann wahre, ganzheitliche Heilung immer nur durch Annahme geschehen - niemals durch Abspaltung oder Verleugnung. Je mehr wir an uns selbst arbeiten, je reifer und wacher wir als Frauen werden, desto größer wird auch unser Bewusstsein über diesen Schmerz in uns und damit unsere Fähigkeit ihn bewusst anzunehmen. Und je größer unser Bewusstsein wird, desto mehr Verantwortung tragen wir, diese Wunde zu heilen - individuell, kollektiv, stellvertretend für alle Frauen. Es gilt das globale Bewusstsein der Frauen zu heilen. Natürlich gilt es, den Missbrauch im Außen zu stoppen - sei es in unserer Gesellschaft oder in fremden Ländern, aber auch den kollektiven verinnerlichten.

Die Heilung einer Wunde auf der Bewusstseinsebene verläuft ähnlich wie die einer körperlichen Wunde. Verdrängen wir die Wunde, decken wir sie mit einem Verband zu, entzündet sie sich und beginnt langsam unseren gesamten Organismus zu vergiften. Nehmen wir den Verband ab und lassen frische Luft an die Wunde, heilt die Wunde fast schon von selbst. Es Bedarf lediglich unserer Achtsamkeit und einer gewissen Hygiene. Für Heilung in unserem Bewusstsein bedeutet das, dass wir die Wunde aufdecken und an's Licht unseres Bewusstseins holen müssen. Emotionale Hygiene bedeutet, dass wir der Wunde zwar Achtsamkeit und einen gewissen Raum geben, jedoch nicht immer wieder darin herumstochern oder uns in ihr suhlen. Nur indem wir den Schmerz so in uns stehen lassen, annehmen und wahr nehmen, kann die Heilung geschehen.

Wie unser physischer Körper verfügen unsere Subtilkörper über die fantastische Fähigkeit sich selbst zu heilen. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, unseren Organismus darin zu unterstützen, indem wir der Wunde die notwendige Beachtung schenken. Rituale, die uns mir einer positiven, kraftvollen Weiblichkeit verbinden, können hier hilfreich sein, indem sie unsere typisch weiblichen Heilkräfte stärken. Die Kraft des Mondes und der monatlichen Blutung oder die archaischen Zyklen von

Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt tragen alle Geheimnisse in sich, die es heute für uns wieder zu entdecken gilt: für uns, für unsere Töchter und für unsere Mutter Erde.

Die Autorin

Amana Virani ist eine moderne Schamanin, geistige Heilerin und spirituelle Lehrerin. Informationen zu Seminaren und Einzelsitzungen: amanavirani-info@web.de , www.amanavirani.com.

Copyright 2005, Amana Virani. Alle Rechte vorbehalten.

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