Kore - Das Mißbrauchsopfer

Der psychologische Aspekt hinter dem Mythos der Mädchengöttin

Die Medien sind momentan voll von Berichten über Missbrauchsopfer, über Kinder, die körperliche und psychische Gewalt aushalten mussten. Die Varianten des Missbrauchs sind breit gefächert: sie reichen von Beschimpfung und Demütigung, über einmalige oder fortgesetzte körperliche Gewalt bis hin zu geplantem, sexuellem Missbrauch.

Die Göttin unseres Göttinnenportraits in dieser Ausgabe des Schlangengesangs ist ein Beispiel für ein solches Missbrauchsopfer. Wir wollen uns anhand des Mythos der Kore einmal die vielfältigen Varianten des Missbrauchs ansehen und dabei auch ab und an einen Blick in die „Jetzt-Zeit“ werfen.
Der Kore/Persephone-Mythos ist beispielhaft für die Ausbeutung von Kindern, besonders aber von Mädchen, seit dem Beginn der patriarchalen Gesellschaftsstrukturen.

Kore ist die Tochter der Erdgöttin Demeter und des Wettergottes Zeus. Als „Verjüngung“ der Erdmutter, als ihre rechtmäßige Nachfolgerin, wäre es Kores Recht, sich ihren Partner selbst zu wählen. Stattdessen wird das Mädchen heimlich vom eigenen Vater sexuell missbraucht und sogar geschwängert. Auch ihr späterer Mann Hades ist ein Blutsverwandter; er ist ein Bruder ihrer Mutter Demeter und ihres Vaters Zeus, also der Onkel des Mädchens.

Wagen wir einen Blick in die „Jetzt-Zeit“: Statistisch betrachtet finden 80 % der sexuellen Übergriffe auf Kinder in der Familie oder dem näheren Bekanntenkreis statt. Wie bei Kore, sind es häufig die Väter, Stiefväter, Onkel oder Freunde der Familie, also gerade die Vertrauenspersonen aus dem Umfeld des Kindes, die das Kind traumatisieren und ihm damit schwere seelische Schäden zufügen.

Aus der Überlieferung des Mythos ist nicht bekannt, ob Demeter von der sexuellen Beziehung ihres Bruders Zeus zu der gemeinsamen Tochter wusste. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass ihr die Schwangerschaft des Mädchens nicht aufgefallen ist, besonders da das innige Mutter-Tochter-Verhältnis so oft hervorgehoben wird. Wahrscheinlicher ist, dass Demeter wegsah - und das obwohl auch sie Opfer einer Vergewaltigung, durch ihren Bruder Poseidon, wurde.

Auch hier kann man wieder Parallelen zu heute ziehen: oft sehen die Mütter der weiblichen Missbrauchsopfer weg – sie ignorieren alle Anzeichen, ja bezichtigen die Mädchen nicht selten sogar der Lüge, wenn diese endlich den Mut aufbringen sich zu erklären und Hilfe zu suchen. Wie verraten und gedemütigt muss sich so ein Kind fühlen? Von beiden Vertrauenspersonen in höchster Not keine Hilfe zu erhalten – das muss schrecklich sein. Wird so ein Mensch jemals wieder in der Lage sein, einem anderen Menschen zu vertrauen? Was löst dieser Verrat in der Gefühlswelt eines heranwachsenden Menschen aus?

Um die Niederkunft des Mädchens Kore zu verheimlichen, vor seiner Gattin Hera, aber auch vor Demeter und dem Rest des griechischen Pantheons, versteckt Zeus Kore und dann auch den Neugeborenen Jungen Zagreus, in einer Höhle auf der Insel Kreta. Zu allem Überfluss nimmt Zeus der jungen Mutter auch noch das Baby weg und lässt es von den Kureten, Dämonen, die einen lauten Waffentanz aufführen, bewachen. Dieser Trick hatte Zeus einst das Leben gerettet, als Rhea ihn zur Welt brachte und ihren Mann Kronos mit Hilfe der Kureten erfolgreich ablenkte. Doch Hera lässt sich nicht so einfach überlisten – schließlich kennt sie den Mythos von Zeus Geburt. Sie schickt Titanen, um Zagreus töten zu lassen. Auch wenn sich der junge Zagreus nach Kräften wehrte, sich als äußerst wandlungsfähig und kämpferisch erwies, er unterlag doch den angeheuerten Mördern. Zeus erweckte ihn zwar erneut zum Leben und sicherte ihm auch die Unsterblichkeit, doch für Kore war das Kind verloren.

Selbst dieser Teil des Mythos lässt sich in die heutige Zeit transferieren: gerade jugendliche Mütter, Teenager-Mütter, werden oft dazu genötigt, ihre Kinder abzugeben. Ob die Babys zur Adoption freigegeben werden, in Heimen oder bei Pflegeeltern aufwachsen oder von der Großmutter aufgezogen werden – nur selten haben die jungen Frauen die Gelegenheit ihre Mutterrolle vollends auszufüllen, ganz für ihr Kind da zu sein. Sicherlich ist so eine Entscheidung verständlich und nachvollziehbar, wenn sie von der Teenager-Mutter selbst gefällt wird. Gerade in der Unsicherheit der Jugend, in einer Phase, in der das Kind selbst erst zur Frau heranreift, ist es sehr schwer, die Verantwortung für ein eigenes Kind zu übernehmen, doch oft werden die jungen Mütter auch dazu gedrängt, ihr Kind abzugeben und fremdbetreuen zu lassen. So ergeht es auch Kore. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass es ihre Entscheidung gewesen sei, ihr Kind abzugeben oder dass sie gefragt worden wäre, wie sie sich die Zukunft ihres Sohnes vorstellt.

Vom eigenen Vater geschwängert und um die wohlverdiente Mutterschaft gebracht, umgibt sich Kore nun bevorzugt mit Frauen. Nymphen, sowie die unverheirateten, jungfräulichen Göttinnen Artemis, Athene und Hekate, werden ihre Begleiterinnen. In ihrer Nähe fühlt sich das Mädchen sicher – doch weit gefehlt: Hades bittet seinen Bruder Zeus um die Hand Kores/Persephones. Zeus hat zu diesem Zeitpunkt bereits kein sexuelles Interesse mehr an Kore, schließlich hatte er ja bereits das Vergnügen ihrer Entjungferung. Stattdessen meldet sich nun sein väterlicher Instinkt: das Mädchen ist schließlich keine Jungfrau mehr, also nicht mehr so gut vermittelbar und Hades ist nun wirklich eine „gute Partie“ für seine göttliche Tochter. Er zögert dennoch mit der Freigabe Kores. Aus geheuchelter Rücksicht auf seine Schwester Demeter, wie er behauptet, überlässt Zeus Hades die Entscheidung - er stiehlt sich aus seiner Verantwortung der eigenen Tochter und Mutter seines Sohnes gegenüber. Hades fühlt sich bestätigt und raubt das schreiende, sich wehrende Mädchen. Der Raub steht natürlich symbolisch für eine weitere Vergewaltigung. Hades macht Kore zu seiner Frau, er schläft also mit ihr. Als Dank, oder nennen wir es Gegenleistung, wird sie nun Persephone, Führerin der Totenseelen, Göttin der Unterwelt und des Totenreiches.
Auf Kores Wünsche und Gefühle nimmt Hades keine Rücksicht. Ihren offen geäußerten Wunsch, zu ihrer Mutter zurückkehren zu dürfen, ignoriert er und greift dann sogar zur List mit den Granatapfelkernen, als er fürchten muss, sein neues Spielzeug wieder hergeben zu müssen.

Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende lang, war die Verheiratung der Töchter eine übliche Praxis. Wie ein wertvolles Gut wurden sie an den meistbietenden verschachert. Liebesheiraten galten im antiken Griechenland und auch in Rom als überflüssiger Luxus. Noch heute ist Zwangsheirat in vielen Kulturen üblich. Besonders eine ledige Mutter, wie Kore, die keine Jungfrau mehr war, galt als schwer vermittelbar und bereitete Probleme beim „Verkauf“. Wir brauchen heute bloß die Zeitung aufschlagen, da können wir fast täglich die Berichte von Zwangsheiraten junger Musliminnen lesen. Selbst hier vor unserer Tür geschehen diese „Vergewaltigungen“ der Seelen und Körper junger Frauen und der meist ebenso ungefragten Männer dazu.

Wie reagiert Kores Mutter Demeter auf die Entführung ihrer Tochter? Sie wird zur wilden Furie, rast um die Erde, mit zwei Fackeln in der Hand auf der Suche nach ihrer Tochter. Wie jede liebende Mutter sucht sie verzweifelt nach dem Kind. Als ihr jedoch vom Kindsvater Zeus erklärt wird, dass sie doch froh sein soll, einen so trefflichen Schwiegersohn, wie Hades es ist, zu bekommen, wird Demeter wütend. Sie will die Entscheidung nicht hinnehmen und tritt in Streik. Sie lässt ihre Aufgaben, Fruchtbarkeit für Land und Lebewesen zu garantieren, ruhen. Doch als sie damit nicht gleich die erhoffte Wirkung erzielt, verfällt Demeter in Depression.
Aber trauert sie wirklich nur um ihre Tochter? Oder ergeht sich die Fruchtbarkeitsgöttin eher in Selbstmitleid, weil sie ihren Partner-Ersatz verloren hat. Demeters Beziehung zu Kore ist nämlich nicht die unschuldige Mutter-Tochter-Beziehung, wie man sie sich vorstellt. Kore ist für Demeter der Partner-Ersatz.
Zeus hat sich als Ehefrau seine und Demeters Schwester Hera ausgesucht. Demeter bleibt unverheiratet, schlimmer noch: als sie sich in Iason, einen Sohn des Zeus mit der Plejade Elektra, verliebt und auch eine sexuelle Beziehung mit ihm eingeht, tötet Zeus Iason mit einem Blitz. Er gönnt seiner Schwester kein Liebesglück. Demeters Ersatzbefriedigung wird die Aufzucht ihrer Kinder. Aus der Vergewaltigung durch Poseidon entstehen zwei Kinder: die Nymphe Despoina und das Wunderpferd Arion, die sie aber beide nicht aufzieht. Aus der Verbindung mit Iason geht Plutos hervor (nicht Pluto!), der Gott des Reichtums und der Getreidevorräte. Er wird meist als pausbäckiges Kleinkind dargestellt und ist gleichzusetzen mit dem „Brimos“ der „eleusinischen Mysterien“. Ob Plutos noch einen Zwillingsbruder Philomelos (bei Hyginus), Korybas oder Eubouleus (bei Diodor) hatte, ist nicht ganz sicher.
Zumindest entwickelt Demeter besonders zu Kore ein inniges Abhängigkeitsverhältnis. Aus diesem Grund hat sie auch kein wirkliches Interesse daran, dass das Mädchen erwachsen wird und sich einen Partner sucht. Demeter findet sich dann aber doch mit dem Kompromiss ab, dass Kore ein halbes Jahr bei ihr und ein halbes Jahr, als Persephone, Herrin der Unterwelt ist und bei Hades weilt.

Demeter ist hier symbolisch für die überbehütende Mutter, die ihr Mädchen nicht zur Frau werden lässt, die sie bemuttert und sich an sie klammert, um selbst nicht alleine da zu stehen. Auch für dieses Verhalten können wir in unserer modernen Welt noch Beispiele finden. Die Tochter als Partnerersatz spielt in vielen Familien eine Rolle und hat einen großen Einfluss auf die psychische Entwicklung eines Mädchens.

Zum Glück gelingt es Kore sich als Persephone zu emanzipieren. Als Persephone gewinnt sie an Kraft und Selbstvertrauen. Sie füllt ihre Funktion als Unterweltsgöttin aus und sie lernt sich auch gegen ihren Mann Hades durchzusetzen. Es gibt zahlreiche Mythen, in denen Persephone Mitleid mit Verstorbenen hat und mehr als einmal ist sie es, die eine Rückkehr in die Oberwelt erlaubt. In der Theseussage begnadigt sie den Helden und Dionysos besticht Persephone mit Myrte, um seine Mutter Semele freizubekommen. Zweimal gelingt es Persephone andere Frauen vor einer Vergewaltigung durch Hades zu retten: die Nymphe Minthe wird von ihr in das Pfefferminzkraut und die Nymphe Leuke in eine weiße Pappel verwandelt. Durch die Wandlung zu Persephone verkörpert sie, mit ihrer Mutter Demeter zusammen, die drei Aspekte der großen Göttin: Kore – die junge Frau, Demeter – die Mutter und Persephone – die Göttin der Totenwelt. Sie hat alle Wandlungen durchgemacht und bringt mit dem Neugeborenen Brimos den Zyklus des ewigen Werdens und Vergehens in den eleusinischen Mysterien zum Ausdruck.

Jean Shinoda Bolen hat sich in ihrem Buch „Göttinnen in jeder Frau“ der psychischen Entwicklung des Archetyps der Demeter und der Persephone ausführlich gewidmet. Sie beschreibt die Auswirkungen der Archetypen (nach Jung) auf die Psyche der Frau und eröffnet Möglichkeiten zur seelischen Entwicklung, wenn diese Archetypen im Vordergrund stehen. Für mich persönlich war dieses Buch ein Meilenstein in meiner Entwicklung und ich kann es zur weiteren Beschäftigung mit den psychologischen Aspekten der Kore/Persephone, der Demeter, aber auch der anderen Hauptgöttinnen des griechischen Pantheons nur empfehlen. Ebenso wegweisend ist das weiterführende Buch „Feuerfrau und Löwenmutter“, das die Archetypen für die reifere Frau ab den Wechseljahren ins Blickfeld rückt.

Literaturempfehlungen und Links:
Jean Shinoda Bolen, Göttinnen in jeder Frau – Psychologie einer neuen Weiblichkeit
Jean Shinoda Bolen, Feuerfrau und Löwenmutter – ein spiritueller Leitfaden
http://www.jeanshinodabolen.com/


artemisathene

 

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